Auch Felsen müssen weichen
Wenn ich früher den Faden verloren hatte und nicht wusste, wohin mit mir, bin ich in die Riekenbank zu meinen Eltern gefahren. Dann saß mein Vater in diesem aufgeplusterten hellbraunen Sessel und las, abhängig von Tages- und Jahreszeit, ein Perry Rhodan-Heft oder die WAZ. Meine Mutter werkelte im Schlafzimmer an ihrer Nähmaschine oder stand in der Küche am Herd. Zwar waren meine Eltern nie das für mich, was Eltern sein sollten. Felsen in der Brandung, ein Quell der Liebe selbst in Krisenzeiten. Trotzdem war ich ein wenig aufgehoben dort. Nicht, dass mein Vater über nennenswerten Betrag an Empathie verfügte. Trotzdem waren sein eiskalter Blick auf die Realitäten und seine Gleichförmigkeit gelegentlich eine Hilfe. Seine Empathielosigkeit sogar eine mögliche Stärke. Für meine Mutter hatte ich mich inzwischen etwas hoch gearbeitet. War ich als kleines Kind noch eher ein Störfaktor, schon wegen der falschen Konfiguration zwischen den Beinen, so später wenigstens willkommener Besuch. Der nicht in seinem Wesentlichen maßgebend war, aber dem man seine Geschichten unterbreiten konnte. Das alles ist Vergangenheit. Und auch nicht.
Mein Vater starb im Sommer 2006. Bevor er uns gegen Mitternacht verließ, hatten wir am Abend gegen acht noch telefoniert. Selbst in der Gewissheit, dass er das Klinikum nicht lebend verlassen würde, war er wie immer, unemotional, sachlich bis aufs Blut. Nach den vielen Jahren bin ich, wenn nicht ein Felsen, so doch ein größerer Kiesel in den Wellen für meine Mutter. Der Briefe vom Energieversorger oder vom Finanzamt erklärt, die sie nicht versteht. Auch nicht, wenn ich sie erklärt habe. Die die Briefe alle verwahrt, weil sie Werbung von Ernstem nicht unterscheiden kann. Die geöffneten Umschläge in einer separaten Schachtel. Wahrscheinlich für den Fall dass. Ich verstehe sie nicht, kann ihre Gedanken nicht nachvollziehen, sie ist mir fremder als manche meiner Nachbarn. Sie fragt mich etwas, fällt mir Sekunden später ins Wort und erzählt wieder ihre eigenen Einfälle zu einem ganz anderen Thema. Mittlerweile fehlt mir jeder Bezug zu ihr.
Oft frage ich mich, was davon übrig geblieben ist, was ich mitgenommen habe. Mein Vater predigte immer Toleranz, Sachlichkeit und eine zuverlässige Distanz. Tatsächlich habe ich das übernommen, oft war es hilfreich, bis heute. Gerade im Job. Liebe konnte er nicht geben, aber absolute Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit. Das war wenigstens ein akzeptables Angebot. Wenn es jedoch einen Abgrund in meinem Leben gab, war es meine Mutter. In ihrer Konzentration auf nur sich, teilte sie im Grunde den Mangel an Empathie mit meinem Vater. Nur konnte sie es besser verbergen. Dabei war sie eine ziemlich miese Schauspielerin. All die Lieblosigkeit, die Erpressungen und sinnlosen Bestrafungen, nur um des Machtbeweises willen, sind mir bis heute fremd. Haben sich tief eingegraben und verletzt, so dass ich sie nicht mehr los werde und immer noch glaube, es sei alles meine Schuld. Dass die Wirklichkeit eine andere ist, ist mir wohl bewusst. Allein, mir fehlt der Glaube.
So steht dann die ungestellte Frage an meine Kinder im Raum, was ich hinterlassen haben werde. Aktuell möchte ich es aber nicht wissen. „Wahrheit, Wahrheit, alle wollen immer nur die Wahrheit. Aber vergesst nicht, dass die Wahrheit schrecklicher sein kann als die Lüge!“ (Maggie, die Katze, in Die Katze auf dem heißen Blechdach)
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