Eine Frage der Sichtweise
Seit einiger Zeit hat sich ein Obdachloser hier im Dorf niedergelassen. Oft streift er durch die Straßen, zieht einen dieser modernen Bollerwagen aus Zeltstoff und Stahlrohren hinter sich her. Darin seine Habseligkeiten, geschützt gegen die Unwägbarkeit der ostwestfälischen Wetters mit einer Plastikplane. Doch das Wägelchen ist nicht schmucklos, einige Papierfähnchen mit Schwarz-Rot-Gold zieren es. Mal sitzt der Mann an der Hütte im Almetal, mal auf der Bank vor der Volksbank, mal im Kräutergarten der Burg. Er ist freundlich, grüßt immer ausgiebig und strahlt sogar einen inneren Frieden aus. Manchmal erlaubt einer der Dorfbewohner ihm einen kleinen Plausch. Nie würde er stören oder unangenehm werden, eher zurückhaltend wirkt er. Er bettelt nicht. Vielleicht steckt ihm jemand dann und wann etwas zu.
Auf einer unserer letzten Runden am Abend saß er im kleinen Park auf der Bank. Es war ein eher warmer Abend. Wie immer grüßte er freundlich herüber. Und ich kam ins Nachdenken. All seine Habe passte in diesen kleinen Trolley. Ich dagegen lebe auf fast einhundert Quadratmetern, gefüllt mit Sofas und Teppichen aus Wolle und Seide, Schränke vollgestopft mit Backformen und Schreibutensilien, Regale voller Bücher, ein Bett mit einer Decke aus Merino-Wolle, Tische und Bänke aus massivem Eichenholz, von dem ganzen Zeugs in Kartons im Keller ganz zu schweigen. Was ist mit dem Leben dieses Mannes geschehen, wo hat er einmal, oder mehrmals, ein unpassendes Gleis genommen? Was waren die unguten Entscheidungen, seine Entscheidungen, die falschen Antworten? Oder die falschen Fragen? Im Vergleich zu ihm bin ich steinreich, im Vergleich zu Elon Musk bitterarm. Wo ist dann noch der richtige Standpunkt, der ein wahres Urteil zulässt?
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