Fare thy well
Das Leben ist nicht planbar, nicht einmal absehbar. Als ich am 15. April nach Essen fuhr, ahnte ich nicht, was kommen würde. Meine Mutter konnte nicht mehr aufstehen, nicht mehr essen. Fast schien es, als wenn sie nicht wirklich wahrnahm, dass ich gekommen war. Dachten wir erst noch, es sei nun doch Zeit für ein Pflegeheim geworden, kam sie am Montag auf Anraten des Sozialdienstes ins Krankenhaus. Weil wir nicht absehen konnte, wie die Geschichte weiter ging und was sie wirklich hatte. Am 21. April rief mein Bruder an, unsere Mutter sei nun in einem Einzelzimmer. Ihr Sterben war absehbar, der Zeitpunkt nicht. Besuch bei ihr am Samstag, am Sonntag, nun der 23. April, wollte Julia zu ihr. Doch Mutter verstarb gegen 10:15 Uhr. So fuhr ich nach Essen, doch war sie schon in den Keller gekommen, weil das Zimmer dringend gebraucht wurde. Armin, Julia und ich klärten noch erste Dinge, Beerdigungsinstitut, weiteres Vorgehen.
Es war überaus merkwürdig jetzt in diesem Haus zu sein, gleichzeitig zu wissen, dass sie eben nicht mehr da war. Plötzlich kam mir das Haus fremd vor, unvertraut, leer, verlassen, überflüssig. Mit ihrem Tod hatte das Haus seine Bedeutung verloren. Jedes einzelne Möbelstück, jedes Bild, jede Klainigkeit. Für Armin war es anders, er war viel verbundener mit ihm, für ihn war das Haus nun seine Zukunft. Andererseits tat die Nüchternheit, mein Abstand, das Vertrauen zwischen meinem Bruder und mir, seltsam gut. Ich brauchte keine Trauer zu spielen, die auch nicht da war. So wie beim Tod meiner Großmutter und meines Vaters. Für mich waren es Vorgänge, Veränderungen. Ich wüsste keinen Tod eines Menschen, bei dem ich Trauer empfunden hätte. Obwohl doch bei Greg Lake oder Keith Emerson. Mit ihnen war ich innerlich und emotional verbunden, durch ihre Musik. Als Carlo und Nero und Lilly starben, da habe ich Rotz und Wasser geheult, Tage lang. Saß im Büro „and could not stop the tears from falling“.
Am 15. Mai wird sie beigesetzt. Besser: ihre Urne. Sie kommt mit auf die Grabstelle meines Vaters, haben wir entschieden. Ein Testament gab es nicht, wie auch. Sie konnte ja höchstens einen Einkaufszettel schreiben. Nie wurde darüber gesprochen, wie sie ihre Beisetzung wünschte. Als wenn sie sich für unsterblich hielt, als wenn es immer weiter gehen würde, als wenn sie unverzichtbar wäre. Pustekuchen. Einige Erinnerungsstücke werde ich am 15. Mai mitnehmen. Den Seidenteppich aus China, den Akkusauger, mit dem sie „nicht zurecht kam“, das DAB+-Radio aus der Küche, ich habe schon genug Kram. Es muss nicht mehr werden.
Sie ist nun von uns gegangen, wie es so euphemistisch heißt. Doch sie ist nicht fort, sie ist weiter in uns. Die Verletzungen und Kränkungen, die Prügel und die Vernachlässigung, der Größenwahn und Narzissmus, die Realitätsleugnung und die Angst. All das dauert fort, lebt in mir fort, ist Erbe und Fluch. Der Mensch ist nicht mehr erreichbar, die Erinnerungen leben weiter, sind unauslöschbar. Im Positiven wie im Negativen. Das nächste Weihnachten wird anders. Anders als alle Weihnachten zuvor. Vielleicht fahren Duna und ich über Weihnachten ins Lakeland, oder ins Erzgebirge, oder zu Daniel und Julia. Jetzt wäre die Freiheit da, alte Träume zu realisieren, doch nach dem Brexit nicht mehr realistisch. Irland wäre eine Alternative, meint Annette, Cork oder Kerry. Ob ich diesen Mut noch aufbringe, steht in den Sternen. Aber man wird ja wohl noch Träume haben dürfen. Merkwürdige Zeiten. The future’s wide open. Und das in diesen Jahren.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!