Nur der Wandel ist konstant
Es heißt, dass man mit den Menschen Frieden schließen soll, wenn sie unsere Welt verlassen haben. Doch ich bin noch nicht so weit. Noch immer ist diese gewisse Wut nicht abgeklungen, fehlt mir das Verständnis für sie, begreife ich nicht ihre Sicht des Lebens. Ihr Hin- und Herspringen zwischen schwach und hilfebedürftig, übersteuernd und überbügelnd, großmaulig und besserwisserisch. Gerade jetzt, wo meine Mutter nicht mehr da ist, wird mir deutlich, dass sie mir immer fern war und niemals das, was eine Mutter in meinem Verständnis sein sollte. Es ist mir zunehmend schwer gefallen, dorthin zu fahren. Weil sie nicht zu fassen war, sie war nichts Reales, wie man sagt, nichts Authentisches an sich hatte. Ein Blümlein im Wind, das sich immer dahin neigte, von wo der Wind wehte. Sie war nichts, worauf man sich wirklich verlassen konnte, unberechenbar, unehrlich, und die meinte, man könne mit Geld alles Weitere regeln. Und doch kein stabiles Verhältnis zum Materiellen hatte. Sie hatte noch nicht einmal ein Verhältnis zur Realität. Weil ich sie einfach nicht verstehen kann, so hadere ich weiter mit ihr. Als hätte man ein Wesen gesehen, das es eigentlich nicht geben dürfte.
Doch die Welt hat sich verändert. Die Verbindung zwischen meinem Bruder und mir ist wieder stärker geworden, jetzt, wo wir die Ältesten unserer Art sind. Kaum ein Tag, wo es keinen Austausch gibt über Veränderungen im Haus, merkwürdige Funde hinter Kellerregalen und Anzeichen, wie deutlich meiner Mutter das Leben über die Zeit aus den Händen geriet. Fast kommt da so etwas mit Mitleid auf, mit ihrer seit dem Tod meines Vaters immer leerer werdenden Welt. Als der Steuermann von Bord gegangen war. Das Leben, das sie mangels eigener Fähigkeiten und Kompetenzen nicht mehr gestalten konnte. Dann kehrt der Blick zurück zu mir selbst. Wie werde ich in zehn oder zwölf Jahren mein Leben gestalten, was wird von meinen Kompetenzen übrig bleiben? Der Vergleich hinkt, denn so wie meiner Mutter schon in jungen Jahren das Leben außer Kontrolle geriet, so kenne ich Leben eben nicht. Lasse ich also noch etwas Zeit vergehen, vielleicht bekomme ich irgendwann eine Spur einer Ahnung, wer sie wirklich war. Wenn sie überhaupt «jemand» war.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!