Es heißt, dass man mit den Menschen Frieden schließen soll, wenn sie unsere Welt verlassen haben. Doch ich bin noch nicht so weit. Noch immer ist diese gewisse Wut nicht abgeklungen, fehlt mir das Verständnis für sie, begreife ich nicht ihre Sicht des Lebens. Ihr Hin- und Herspringen zwischen schwach und hilfebedürftig, übersteuernd und überbügelnd, großmaulig und besserwisserisch. Gerade jetzt, wo meine Mutter nicht mehr da ist, wird mir deutlich, dass sie mir immer fern war und niemals das, was eine Mutter in meinem Verständnis sein sollte. Es ist mir zunehmend schwer gefallen, dorthin zu fahren. Weil sie nicht zu fassen war, sie war nichts Reales, wie man sagt, nichts Authentisches an sich hatte. Ein Blümlein im Wind, das sich immer dahin neigte, von wo der Wind wehte. Sie war nichts, worauf man sich wirklich verlassen konnte, unberechenbar, unehrlich, und die meinte, man könne mit Geld alles Weitere regeln. Und doch kein stabiles Verhältnis zum Materiellen hatte. Sie hatte noch nicht einmal ein Verhältnis zur Realität. Weil ich sie einfach nicht verstehen kann, so hadere ich weiter mit ihr. Als hätte man ein Wesen gesehen, das es eigentlich nicht geben dürfte.

Doch die Welt hat sich verändert. Die Verbindung zwischen meinem Bruder und mir ist wieder stärker geworden, jetzt, wo wir die Ältesten unserer Art sind. Kaum ein Tag, wo es keinen Austausch gibt über Veränderungen im Haus, merkwürdige Funde hinter Kellerregalen und Anzeichen, wie deutlich meiner Mutter das Leben über die Zeit aus den Händen geriet. Fast kommt da so etwas mit Mitleid auf, mit ihrer seit dem Tod meines Vaters immer leerer werdenden Welt. Als der Steuermann von Bord gegangen war. Das Leben, das sie mangels eigener Fähigkeiten und Kompetenzen nicht mehr gestalten konnte. Dann kehrt der Blick zurück zu mir selbst. Wie werde ich in zehn oder zwölf Jahren mein Leben gestalten, was wird von meinen Kompetenzen übrig bleiben? Der Vergleich hinkt, denn so wie meiner Mutter schon in jungen Jahren das Leben außer Kontrolle geriet, so kenne ich Leben eben nicht. Lasse ich also noch etwas Zeit vergehen, vielleicht bekomme ich irgendwann eine Spur einer Ahnung, wer sie wirklich war. Wenn sie überhaupt «jemand» war.

Das Leben ist nicht planbar, nicht einmal absehbar. Als ich am 15. April nach Essen fuhr, ahnte ich noch nicht, was kommen würde. Meine Mutter konnte nicht mehr aufstehen, nicht mehr essen. Fast schien es, als wenn sie nicht wirklich wahrnahm, dass ich gekommen war. Dachten wir erst noch, es sei nun doch die Zeit für ein Pflegeheim gekommen, kam sie am Montag auf Anraten des Sozialdienstes ins Krankenhaus. Weil wir nicht absehen konnten, wie die Geschichte weiter ging und was sie wirklich hatte. Am 21. April rief mein Bruder an, unsere Mutter sei nun in einem Einzelzimmer. Ihr Sterben war absehbar, der Zeitpunkt nicht. Besuch bei ihr am Samstag, am Sonntag, nun der 23. April, wollte Julia zu ihr. Doch Mutter verstarb gegen 10:15 Uhr. So fuhr ich nach Essen, doch war sie schon in die Pathologie gekommen, weil das Zimmer dringend gebraucht wurde. Armin, Julia und ich klärten noch erste Dinge, Beerdigungsinstitut, weiteres Vorgehen.

Es war überaus merkwürdig jetzt in diesem Haus zu sein, gleichzeitig zu wissen, dass sie eben nicht mehr da ist. Plötzlich kam mir das Haus fremd vor, unvertraut, leer, verlassen, überflüssig. Mit ihrem Tod hatte das Haus seine Bedeutung verloren. Jedes einzelne Möbelstück, jedes Bild, jede Kleinigkeit. Für Armin war es noch anders, er war viel verbundener mit dem Haus, für ihn war das Haus nun seine Zukunft. Andererseits tat die Nüchternheit, mein Abstand, das Vertrauen zwischen meinem Bruder und mir, seltsam gut. Ich brauchte keine Trauer zu spielen, die auch nicht da war. So wie beim Tod meiner Großmutter und meines Vaters. Für mich waren es Vorgänge, Veränderungen. Ich wüsste keinen Tod eines Menschen, bei dem ich Trauer empfunden hätte. Obwohl doch bei Greg Lake oder Keith Emerson. Mit ihnen war ich innerlich und emotional verbunden, durch ihre Musik. Als Carlo und Nero und Lilly starben, da habe ich Rotz und Wasser geheult, Tage lang.  Saß im Büro „and could not stop the tears from falling“.

Am 15. Mai wird sie beigesetzt. Besser: ihre Urne. Sie kommt mit auf die Grabstelle meines Vaters, haben wir entschieden. Ein Testament gab es nicht, wie auch. Sie konnte ja höchstens einen Einkaufszettel schreiben. Nie wurde darüber gesprochen, wie sie ihre Beisetzung wünschte. Als wenn sie sich für unsterblich hielt, als wenn es immer weiter gehen würde, als wenn sie unverzichtbar wäre. Pustekuchen. Einige Erinnerungsstücke werde ich am 15. Mai mitnehmen. Den Seidenteppich aus China, den Akkusauger, mit dem sie „nicht zurecht kam“, das DAB+-Radio aus der Küche, ich habe schon genug Kram. Es muss nicht mehr werden.

Sie ist nun von uns gegangen, wie es so euphemistisch heißt. Doch sie ist nicht fort, sie ist weiter in uns. Die Verletzungen und Kränkungen, die Prügel und die Vernachlässigung, der Größenwahn und Narzissmus, die Realitätsleugnung und die Angst. All das dauert fort, lebt in mir fort, ist Erbe und Fluch zugleich. Der Mensch ist nicht mehr erreichbar, die Erinnerungen leben weiter, sind unauslöschbar. Im Positiven wie im Negativen. Das nächste Weihnachten wird anders. Anders als alle Weihnachten zuvor. Vielleicht fahren Duna und ich über Weihnachten ins Lakeland, oder ins Erzgebirge, oder zu Daniel und Julia. Jetzt wäre die Freiheit da, alte Träume zu realisieren, doch nach dem Brexit nicht mehr realistisch. Irland wäre eine Alternative, meint Annette, Cork oder Kerry. Ob ich diesen Mut noch aufbringe, steht in den Sternen. Aber man wird ja wohl noch Träume haben dürfen. Merkwürdige Zeiten. The future’s wide open. Und das in diesen Jahren.

 

Warum erst so viele Jahrzehnte vergehen mussten, eh sich langsam ein Bild aus vielen Bruchstücken zusammen findet. Erst jetzt, wo es schon ein wenig spät ist. Doch ist das Bild noch nicht vollständig, nicht einmal angenommen. Wirklich auf die Spur gebracht hat mich vor einiger Zeit ein Podcast aus der Serie «Innenwelten» in WDR 5. Darin erklärte Stephan Röpke von der Charité Berlin, was Narzissmus ist, wie er sich zeigt und wie man sich ihm gegenüber wappnen kann. Wie sich Narzissten verhalten und warum, und was die Konsequenzen für ihre Umwelt sind. Das Bild, das Röpke zeichnete, war ein etwas anderes als das, was ich schon in Büchern gefunden hatte. Was mich am meisten verblüffte, war, dass dieses Verhalten mir sehr vertraut war. Als wenn dieser Doc aus Berlin von meiner Mutter erzählte. Langsam, im Zurückblicken, dann noch von Birgit und Maria. Der Psychiater entwarf ein alltäglicheres Bild, doch die wesentlichen Methoden waren so noch deutlicher zu erkennen. Dass der Narzisst immer im Vordergrund steht, jeder andere Mensch unter ihm, jede Kritik und jeder Zweifel an ihm ein Kapitalverbrechen. Ein ganz wesentlicher Zug ist auch der, dass der Narzisst zwar Empathie vortäuschen kann, aber sich nicht wirklich in andere Menschen hinein versetzen. Dass sie ihm im Grunde völlig egal sind. Hauptsache er ist der Große und Einzigartige. Alle anderen haben sich ihm unterzuordnen. Nur er weiß, wo es lang geht. Doch letzten Endes steht hinter all dem Übel bei ihm, dass er unsicher ist und sein eigener Wert eher ungeklärt.

Und wie werden Kinder der Narzissten? Sie leben im ewigen Hadern mit sich selbst, haben das Gefühl, nie etwas richtig machen zu können. Die Kälte und Distanz der Narzissten verhindern eine wirkliche Beziehung. Im Dunstkreis des Narzissten muss man ohne wirkliche Liebe und Zuwendung auskommen. Man ist nur ein Attribut, ein Zeichen seiner Großmacht. Versucht man aus diesem Teufelskreis auszubrechen, wird man hart bestraft, indem der Narzisst einem alles entzieht, jede Zuwendung, jedes gesehen werden, es wird nicht einmal mehr mit einem gesprochen. Man ist Luft, unsichtbar, unspürbar. Man bekommt den totalen Untergang angedroht. So war meine Mutter, so war auch Birgit, auch wenn sie es besser überspielen konnte. Ich machte das Hundefutter falsch, die von mir gekaufte Kaffeemaschine wurde nicht benutzt, es wurde gekrittelt und kritisiert bis zum Erbrechen. Wenn ich an den Sex mit ihr denke, wird mir heute noch schlecht. Denn so etwas wie Zärtlichkeit oder Wärme gab es bei Birgit nicht. Sex war mit ihr eher wie zusammen Laub fegen. Verblüffend an der ganzen Geschichte war, dass mein Körper die Unerträglichkeit schon spürte und reagierte. Erst als ich die Herzbeschwerden und Panikattacken nicht mehr ertrug, mir so mancher Brückenpfeiler an der Autobahn immer anziehender erschien, erst da konnte ich ausbrechen. Spürte danach, als es ausgesprochen war, eine ungeheure Erleichterung.

Doch mit meiner Mutter werde ich noch nicht so schnell fertig. Je mehr dieses Bild, dieses Schema, sichtbarer und plausibler wird, desto mehr nimmt mein Hass auf sie zu. Desto mehr wünsche ich ihr die Pest an den Hals. Vielleicht, weil die Trauer und die Enttäuschung so alt sind und so tief sitzen. Eines letztes Erlebens, ungenügbar  und unerträglich zu sein, bedurfte es noch. Danach war meine Entscheidung komplett, auf nahe, zu nahe Beziehungen in Zukunft zu verzichten.

Andererseits, wenn ich so meine älteren Posts lese, habe ich Fortschritte gemacht. Man wird demütiger, je länger man nachdenkt.

Wenn man noch jung ist, also noch voller Pläne und Absichten, ist der Horizont eine weit entfernte Linie. Der Blick ist weit und umfassend, eine Grenze in weiter Ferne. Im Alter hat der Fokus stark abgenommen. Ein alter Mensch denkt nicht mehr in Jahrzehnten, nicht über Familiengründung, Kinder oder berufliche Zukunft. Für den alten Menschen gehen Planungen selten über den Urlaub im kommenden Jahr hinaus. Und wenn sie weiter reichen, ist es eher die Frage, wo man seine letzten Tage verbringen möchte oder muss. Das sind die Dinge, die ich am meisten vermisse. Die Fragen der fernen Zukunft, die Frage der möglichen Entscheidungen, der Ausblick auf eine nicht zu überschauende Zukunft. Der einzige Fixpunkt in meinen Tagen jetzt ist die Reise nach Pately Bridge. Eventuell noch eine weitere Zeit im Erzgebirge, der nächste Besuch bei meiner Familie in Essen.

Gerade in der Zeit «zwischen den Jahren» kommt das Leben noch ein weiteres Stückchen mehr zum Stillstand. Silvester wird kein anderer Tag werden als alle anderen zuvor, vielleicht ein kleines Highlight zum Abendessen, am Mittag mal wieder essen gehen. So relativiert sich die Planung meines Lebens, es bleiben noch Kritzeleien im Kalender, der aber auch nur ein Jahr geht. Alles darüber hinaus ist Fiktion. Doch kann es auch an dieser Zwischenstation liegen, nicht mehr jung genug zum Planen, noch nicht alt genug zum Aufgeben. Vielleicht ein letztes Aufbäumen vor dem Endspurt. Wann immer die Zeit dafür gekommen ist.

SplintersDie Grenze durchbrechen

Aus: »101 Essays, die Dein Leben verändern werden« | Brianna Wiest

Wieder so ein feuchter, kalter, wolkenverhangener Tag im November. Keine guten Tage, gerade nach einer Nacht mit Träumen, die sich gefühlt über die Länge einer Folge der Herr der Ringe-Trilogie hin ziehen. Gefolgt von einem Erwachen mit einem Kater, der seine Ursachen nicht in geistigen Getränken hat. Manchmal spinnen solche Träume den Löwenanteil meines Lebens weiter. Wie die Fragen nach dem Sollen, Wollen und Dürfen. Eben Fragen nach der Autonomie, nach den Schranken und Grenzen, die vor sehr langer Zeit gesetzt wurden. Und doch bis zum Ende des Lebens gelten werden.

Wenn meine Kindheit etwas in mir hinterlassen hat, ist es die ständige Auseinandersetzung mit den bohrenden Gedanken, ob ich zeigen, leben darf, was ich an Fähigkeiten und Begabungen bekommen habe. Wann immer ich ein Stück nach vorne gehe, wie in meinen Radiobeiträgen, beim Marktplatz Ehrenamt, gegenüber Nachbarn und selbst Unbekannten, steht sofort der mahnende Finger meiner Mutter vor mir. Der mich zurück ruft, maßregelt, mich wieder klein und unwichtig macht. So ziehe ich schnell innerlich den Kopf ein, gehe in die gebückte Haltung, die ich immer mit Skoliose erkläre. Es ist Skoliose, doch die hat ihre Ursachen nicht in einer schwachen Wirbelsäule oder ungünstigen Genen. Sie hat ihre Ursache in dem langen emotionalen Geprügel, der Angst vor dem schwarzen Mann, der mich aufgrund meiner angeblichen Untaten holen wird. Dass ich bei meinem Benehmen besser in ein Internat geschickt würde. Doch statt diese Dinge Jahrzehnte zurück liegen und abebben, werden sie immer drängender. Was hat sie sich damals dabei gedacht? Wahrscheinlich nichts. Das wäre eben damals so üblich gewesen, sagte sie mal beinahe beiläufig. Warum wurden dann meine Freunde zuhause von ihren Eltern geliebt und gefördert, statt andauernd drangsaliert?

Wie viele dieser grauen Tage noch vor mir liegen, ist momentan schwer abzuschätzen. Ich fürchte, sie enden niemals.

 

The donkey told the tiger: The grass is blue.
The tiger replied: No, the grass is green​.
The discussion became heated, and the two decided to submit the issue to arbitration, and to do so they approached the lion.
Before reaching the clearing in the forest where the lion was sitting on his throne, the donkey started screaming: "Your Highness, isn't it true that the grass is blue?"​
The lion replied: "True, the grass is blue"​.
The donkey rushed forward and continued: "The tiger disagrees with me and contradicts me and annoys me. Please punish him"​.
The king then declared: "The tiger will be punished with 5 years of silence"​.
The donkey jumped with joy and went on his way, content and repeating: "The grass is blue"​..
The tiger accepted his punishment, but he asked the lion: "Your Majesty, why have you punished me, after all, the grass is green?"​
The lion replied: "In fact, the grass is green"​.
The tiger asked: "So why do you punish me?"​
The lion replied: That has nothing to do with the question of whether the grass is blue or green. The punishment is because it is not possible for a brave, intelligent creature like you to waste time arguing with a donkey, and on top of that to come and bother me with that question. The worst waste of time is arguing with the fool and fanatic who doesn't care about truth or reality, but only the victory of his beliefs and illusions. Never waste time on discussions that make no sense. There are people who for all the evidence presented to them, do not have the ability to understand, and others who are blinded by ego, hatred and resentment, and the only thing that they want is to be right even if they aren’t. When ignorance screams, intelligence shuts up. Your peace and tranquility are worth more.

Aqualung, my friend don't you start away uneasy. You poor old sod, you see, it's only me

Aqualung, my friend don't you start away uneasy. You poor old sod, you see, it's only me

Seit einiger Zeit hat sich ein Obdachloser hier im Dorf niedergelassen. Oft streift er durch die Straßen, zieht einen dieser modernen Bollerwagen aus Zeltstoff und Stahlrohren hinter sich her. Darin seine Habseligkeiten, geschützt gegen die Unwägbarkeit der ostwestfälischen Wetters mit einer Plastikplane. Doch das Wägelchen ist nicht schmucklos, einige Papierfähnchen mit Schwarz-Rot-Gold zieren es. Mal sitzt der Mann an der Hütte im Almetal, mal auf der Bank vor der Volksbank, mal im Kräutergarten der Burg. Er ist freundlich, grüßt immer ausgiebig und strahlt sogar einen inneren Frieden aus. Manchmal erlaubt einer der Dorfbewohner ihm einen kleinen Plausch. Nie würde er stören oder unangenehm werden, eher zurückhaltend wirkt er. Er bettelt nicht. Vielleicht steckt ihm jemand dann und wann etwas zu.

Auf einer unserer letzten Runden am Abend saß er im kleinen Park auf der Bank. Es war ein eher warmer Abend. Wie immer grüßte er freundlich herüber. Und ich kam ins Nachdenken. All seine Habe passte in diesen kleinen Trolley. Ich dagegen lebe auf fast einhundert Quadratmetern, gefüllt mit Sofas und Teppichen aus Wolle und Seide, Schränke vollgestopft mit Backformen und Schreibutensilien, Regale voller Bücher, ein Bett mit einer Decke aus Merino-Wolle, Tische und Bänke aus massivem Eichenholz, von dem ganzen Zeugs in Kartons im Keller ganz zu schweigen. Was ist mit dem Leben dieses Mannes geschehen, wo hat er einmal, oder mehrmals, ein unpassendes Gleis genommen? Was waren die unguten Entscheidungen, seine Entscheidungen, die falschen Antworten? Oder die falschen Fragen? Im Vergleich zu ihm bin ich steinreich, im Vergleich zu Elon Musk bitterarm. Wo ist dann noch der richtige Standpunkt, der ein wahres Urteil zulässt?

Als ich heute Morgen so im Bett lag, Duna auf meinem Bauch, wie sie es neuerdings wieder tut, noch den Nachrichten lauschend, stellte sich der Begriff ein, nach dem ich lange gesucht hatte. Verbitterung. Das, was man ältlichen Damen nachsagt, die auch allein sind, die ihre Wurzeln im Dasein verloren haben. Keine Verbitterung gegenüber Gott, der Welt oder dem Universum. Sondern mir selbst gegenüber. Es nicht geschafft zu haben, den Weg in ein, wie man sagt, erfülltes Leben gefunden zu haben. Immer wieder falsch abgebogen, immer wieder dem Willen und den Einflüssen anderer Menschen gefolgt zu sein. Selten den Mut zu eigenen Wegen aufgebracht zu haben, einem Phantom nachjagend, imaginären Vorschriften gehorcht zu haben. Vorschriften, die in der Kindheit und Jugend eingeimpft wurden, mit der Androhung des Untergangs, wenn ich ihnen nicht folge. Nie gut genug zu sein, dann wieder zu anmaßend oder zu überheblich. Daran haben auch Jahre der Analyse und Therapie nichts geändert. Nur mein Herz wusste das immer.

Am meisten schmerzt, nicht den eigenen Gedanken und Gefühlen gefolgt zu sein. Zu wissen, etwas unscharf und undeutlich, mehr gefühlt als gewusst, dass die Wahl meiner Gefährtinnen immer die falsche war. Barbara, Maria, Birgit. Doch das Grundmuster ist heute klar. Ich suchte mir Frauen, die mir zuverlässig eins in die Zähne gaben, die mir bestätigten, dass meine Selbstzweifel durchaus berechtigt waren. Nicht einmal mir selbst gegenüber kann ich eingestehen, dass ich nicht so nutzlos und unfähig bin, wie sie es sagten. So lebe ich heute mit den Konsequenzen. Kinder, die mich nicht brauchen, Familie, die ich nicht brauche. Fülle den Tag mit Aktivitäten zweifelhafter Natur. Mit wenig Sinn und noch weniger Bedeutung. Kann immer noch nicht Nein sagen, auch wenn ich es besser weiß. Wende mich nicht den Menschen zu, die hilfreich und gut sind, in der Furcht, unangenehm aufzufallen oder ihnen zu nahe zu treten, sie zu belästigen. Die Krümel vom Tisch müssen reichen. Ein verqueres Leben, von dem nicht mehr ganz so viel übrig ist. Sehne mich nach einer Seele neben mir, an die ich mich beim Einschlafen anlehnen kann. Nicht für Sex, einfach für Nähe, die mir sagt, dass ich so, wie ich bin, gut genug bin.

Ich möchte nach Hause, nach Keswick oder Grasmere, Penmaen oder Petersfield, Broadway oder Coverack. Die Orte, die mir nur ganz allein gehören in dieser Geschichte.

 

“Most of us have small, sad places in our hearts. My father felt deeply but kept his feelings to himself. Or rather, being a writer, he let them escape in his writing. And so such sadnesses as there were put on cap and bells and emerged as Eeyore.” » C. R. Milne